„Ich laufe um die Kurve und da stehen sie vor mir: eine Wildsau mit zwei Ferkeln. Ohne zu Zögern hebe ich die Kamera, die immer um meinen Hals hängt hoch und blicke durch den Sucher. Noch während ich scharf stelle, muss ich grinsen. Gerade mal einen halben Tag in den Bergen unterwegs und schon treffe ich auf wilde Tiere. Was habe ich doch für ein Glück! Dann betätige ich den Auslöser. Die Kamera klickt. Alle drei Tiere wenden sich im selben Moment nach dem Geräusch um und blicken mir in die Augen. Mein Lächeln verschwindet. Plötzlich bin ich mir bewusst, dass ich allein irgendwo im Wald stehe und vor mir ein wildes Muttertier, das seine Kinder beschützen will. Zwischen uns ist kein Zaun. Soviel zu meinem Glück.
Sieben Stunden zuvor hatte ich im Hotel meinen Rucksack ein letztes mal gecheckt und dann das schwere Teil auf meinen Rücken gehievt. Wahrscheinlich hatte ich es mit dem Proviant etwas übertrieben und das Gewicht deutlich in die Höhe getrieben, aber irgendwo hatte ich gelesen, dass ich knapp den doppelte Kalorienbedarf haben sollte. So befand sich neben meiner sonstigen Ausrüstung und knapp einem Liter Brennspiritus für meinen Kocher also folgendes in meinem Rucksack:
– 3,5 Liter Wasser
– 1 kg Nudeln
– 3 Packungen Tütensuppen
– 1 Dose Tomaten
– 2 Zuchini
– 1 kg Bananen
– 4 Tafeln Schokolade
– 4 Baguette
– 1 Glas Marmelade
– 1 Emmentaler
– 500 gr Doppelkekse
Außerdem hatte ich bis zum Ende der Busfahrt noch einen Kanister Wasser dabei, um meine Wasserflaschen für die Wanderung aufzusparen.
Als ich aus dem Hotel draußen war, musste ich von meinen kaputten Sneakern Abschied nehmen, die nur unnötiger Ballast gewesen wären. Lassen wir an dieser Stelle mal außer Acht, was sich ansonsten vielleicht unnötigerweise auf meinem Rücken befand.
Nach der angesprochenen Busfahrt wollte ich in La Jerounga auf den GR 11 in Spanien einsteigen. Ein kurzes Gespräch mit einer Gruppe deutscher Motocrossfahrer und einiger Spanier, die mir den Weg zeigten, später war ich auf dem Wanderweg.

Ich werde den unangenehmen Teil gleich hinter mich bringen und hiermit meine Anfängerfehler gestehen. Die ganzen Fernwanderwege sind eigentlich gut gekennzeichnet. An Bäumen und Steinen finden sich alle paar hundert Meter rotweiße Striche. Trotzdem endete ich nach zwanzig Minuten das erste Mal in einer Sackgasse. Außerdem gab es an den ersten paar Kreuzungen immer Striche die anstatt so = so X aussahen. Jeder intelligente und aufmerksame hätte sofort eine Idee was das bedeuten sollte. Ich hingegen ging davon aus, dass es mir sagt: “Achtung, hier ist eine Kreuzung!”
Natürlich hatte ich nicht recht und ich merkte es erst, als nach einer haken Stunde keine neuen Zeichen mehr kamen. Ein kurzer Blick auf meine Wanderkarte bestätigte meine Vermutungen. Daraufhin traf ich die erste dumme Entscheidung und kletterte über den nahen Hügel. Der Weg hinauf war gut, aber der Abstieg bestand größtenteils aus Klettern über Dornengestrüpp.
Immerhin marschierte ich danach zielstrebig auf der großen Straße, die Richtung Frankreich führte. Ohne aus meinem vorherigen Fehler gelernt zu haben, habe ich mich entschieden eine “Abkürzung” zu nehmen und nehme einen eher versteckten Weg über den Berg um nicht einen Kilometer westwärts zu laufen, den ich auf der französischen Seite wieder westwärts nehmen muss. Leider ist der Weg wohl doch zu versteckt und als ich mich nach einer halben Stunde umdrehe, sehe ich nur Bäume. Das ist der Moment, an dem ich mich dazu entschlossen habe den Rückweg anzutreten. Und fünf Minuten stolpern durch den Wald später befinden wir uns endlich am Anfang der Geschichte und ich stehe den Wildschweinen gegenüber.
Die Sau wird auf mich aufmerksam und ich öffne meinen Rucksack, so kann ich wohl schneller weglaufen. Ich drehe um und laufe vom Wildschwein begleitet wieder in den Wald zurück. Nach zweihundert Metern bin ich auch endlich wieder allein mit einem pochenden Herzen in der Brust. So sieht mich keiner, wie ich mit dem linken Fuß einknicke und stürze. Passiert ist nichts, aber das ist mir doch Warnung genug ab jetzt nur noch auf dem Weg zu bleiben. So laufe ich eine Stunde später doch den Umweg und komme an freien Kühen vorbei auf die französische Seite. Die Regel immer auf dem Weg zu bleiben und im Notfall lieber nochmal zurück zu laufen, wenn ich mir nicht sicher bin, bewahrt mich in den nächsten Tagen noch vor den ein oder anderen Missgeschicken.

Die letzten Stunden des Tages bringe ich somit bereits in Frankreich zu und ich muss sagen, es erstaunt mich doch wie verändert die Natur nur wenige Kilometer entfernt aussehen kann. Viel mehr grün, Laubbäume (die auf den halben Meter Pfaden zentimeterhoch ihre Blätter hinterlassen und so immer wieder Wasserstellen vor meinen trockenen Füßen verbergen) und die bereits erwähnten frei herumlaufenden Kühe geben mir ein angenehmeres Gefühl als die dornigen Pflanzen auf der anderen Seite und so verfalle ich am Rande des Wanderweges das erste Mal in mein abendliches Ritual:
– Zelt aufstellen
– Kleinen Rucksack mit allem notwendigen für die Nacht packen
– Kocher anmachen
– Nudeln kochen
– Essen
– Kochgeschir putzen
– Badroutine
– Letztes Licht genießen
– In Schlafsack kuscheln
Im Dunkeln und gerade noch im Wald bin ich eigentlich ein großer Angsthase und dementsprechend dachte ich, dass die Nächte von großem Bangen und Zittern begleitet werden würden. Tatsächlich fürchtete ich mich bis auf die allerersten Minuten nie. Erstens lassen sich fast alle Geräusche gut erklären und so viel zu hören gab es doch nicht. Und zweitens war es dank des Mondes und meines hellen Zeltes nie wirklich stockfinster.
Nach meiner ersten Nacht fühlte ich mich in meinem Zelt so wohl, dass ich lange ausschlief, während ambitioniertere Wanderer bereits um 6:00 an meinem Zelt vorbeikamen.
Abgebaut und weiter. Der zweite Tag war ziemlich erfolgreich. Ich hielt mich durchgehend an den Weg, kehrte um, sobald ich für mehrere hundert Meter keine Markierung mehr gesehen hatte. So kam ich viel schneller voran als gedacht. Die Kilometer flogen beinahe an mir vorbei, während ich unter einer dichten Wolkendecke beinahe bis and Mittelmeer marschierte. Gerade als ich mir dann aber einen Schlafplatz ausgesucht hatte, kam die Sonne heraus und hüllte die Landschaft in rötliches Licht.

Von einer sehr windigen Nacht durchgeschüttelt, hielt ich am nächsten Mittag nach zwei Stunden Abstieg meine Zehen ins kalte Meerwasser, bevor ich wieder an einer anderen Stelle nach oben wanderte. Gemeinsam mit einer französischen Familie lief ich die letzte Stunde, bevor ich neben einer kleinen Hütte einen Schlafplatz fand. Problematisch nur, dass ich nach dem sehr heißen Tag kein Wasser mehr hatte und alle eingezeichneten Wasserstellen in der Gegend leer waren. Umso schöner die Ablenkung durch die Fledermäuse, die über meinen Kopf hinwegziehen und mit ihrem Flattern eher wie große Fliegen klingen.
Der 1. Mai ist mein letzter Wandertag und in Frankreich ebenfalls ein Feiertag. Darum waren auf den Wegen mehr Leute unterwegs und überall gab es Grillfeste. Mein Plan auf einen anderen Berg hochzusteigen und dort ICE Nacht zu verbringen, wurde durch mehrere Zäune gestört. Immer wenn ich einen Weg um oder über den Zaun gefunden hatte, kam der nächste, der nicht auf den Wanderkarten eingezeichnet ist. Bis ich zuletzt zweihundert Meter vor dem Gipfelweg von einem Stromzaun komplett gehindert wurde.
Anderthalb Stunden nervigen Ab- und Aufsteigens und 500 Meter trampen später, zog ich de Zeltstangen wieder neben der kleinen Hütte aus meinem Rucksack.
Noch einmal das gesamte Ritual und bei Sonnenaufgang in das nächste Dorf laufen später, sitze ich auf einer Mauer, browse im Internet und warte auf den Bus, der mich endlich zu einer Dusche bringt.“